"Verrückt, na und?" im Interview

23.09.2022

Zum Welttag für psychische Gesundheit sind Annika Menzel und Simon Lucke aus dem Trägerwerk Soziale Dienste zu Gast, um über ihre Seminararbeit zum Thema "verrückt, na und?" mit uns zu sprechen. Worum es da genau geht, berichten die beiden im nachfolgenden Interview.

Foto in einem Klassenraum. Zu sehen sind vier Jugendliche in einem Stuhlkreis im Hintergrund. Im Vordergrund ist eine Schüler:in, die auf dem Boden auf ein Flipchart Papier schreibt. Neben ihr steht ein hellgrüner Erstehilfe-Kasten

Am heutigen Montag findet wie jedes Jahr zum 10. Oktober der Welttag für psychische Gesundheit statt. Dieser wird seit 1992 von der World Federation for Mental Health jährlich ausgerufen, um auf psychische Erkrankungen hinzuweisen.

Passend zu diesem Tag möchten wir euch heute ein ganz besonderes Seminarthema vorstellen: Mit „verrückt, na und?“ haben wir jeden Zyklus ein 6-stündiges Präventionsprogramm rund um psychische Erkrankungen, Glück und Krisen und ein psychisch gesundes Miteinander.

Was genau es damit auf sich hat, woher das Projekt kommt und wieso es für unsere Freiwilligen so wichtig ist, erklären uns Annika Menzel und Simon Lucks im Interview:

 

1 Hallo Annika, hallo Simon. Vielen Dank für eure Zeit. Stellt euch zu Beginn doch gerne einmal kurz vor.

Simon Lucks: Ich bin jetzt seit 2019 als persönlicher Experte bei „verrückt, na und?“ mit dabei.

Annika Menzel: Ich arbeite seit 2010 beim Trägerwerk Soziale Dienste in Sachsen-Anhalt und koordiniere das Projekt „verrückt na und?“ und moderiere dieses auch mit als fachliche Expertin in den Schulprojekten und Seminaren.

2 Worum geht es bei „verrückt, na und?“ eigentlich?

AM: Das Ziel des Projektes ist es letztendlich, seelische Krisen zu besprechen und das Tabu zu brechen, nicht über seelisches Wohl sprechen zu können. Wenn wir es am Ende des Tages geschafft haben, dass die Teilnehmer:innen wissen, bei wem und wo sie sich Hilfe suchen können, dann war das Seminar erfolgreich. Es gehört aber auch dazu, ein neues Miteinander zu üben und sich näher kennenzulernen. Oft kommt im Anschluss von Lehrkräften die Rückmeldung, dass sie noch nie so viel über ihre Schüler:innen erfahren haben. Wir thematisieren im Seminar auch, dass die Menschen im Alltag oft „Masken“ tragen und wie wir lernen können, uns offen einander zu zeigen.

3 Wie lange macht ihr das jetzt schon hier bei unseren Begleitseminaren?

AM: Das erste Mal waren wir Anfang 2018 mit dabei. Damals waren es noch vereinzelte Seminargruppen, aber mittlerweile sind wir fast immer beim DRK mit dabei. Der große Schwung kam dann 2020, als wir in Coronazeiten das Seminar auch online anbieten konnten und andere Referent:innen diese Flexibilität nicht hatten.

4 Warum ist das Thema für unsere jugendlichen Freiwilligen so wichtig?

SL: Es sind ja immer noch junge Menschen ab 16. Die stecken gerade in der Findungsphase und erleben deshalb viele Emotionen und Stress, was ihre Zukunft anbelangt. Aber auch durch die Arbeit im Freiwilligendienst in den sozialen Bereichen gibt es viel Stress und Belastung, mit denen man einen gesunden Umgang lernen muss. Es ist wichtig zu wissen, wie ich Stress erkenne, damit umgehen und auch mit anderen Menschen darüber reden kann. Das hilft den Jugendlichen sowohl für das FSJ als auch für die Zukunft danach.

AM: Der Freiwilligendienst ist für die Jugendlichen oft das erste Mal außerhalb des geschützten Rahmens des Elternhauses und außerhalb der geregelten Vorgänge der Schule. Das ist ein großer Umbruch und damit auch potenziell ein Zeitpunkt für Krisen, mit denen man umgehen muss. In diesem Jahr nach der Schule verändert sich im Leben der Jugendlichen viel. Ein Großteil der psychischen Krisen beginnt im jungen Erwachsenenalter, wenn man aus dem behüteten Elternhaus herauskommt. Das wurde vor kurzem auch bei einem Schulversuch thematisiert. Wir sprachen über Computerspielsucht und die Schüler:innen waren überrascht, dass statistisch die meisten daran leidenden Personen um die 23 Jahre alt sind.  

5 Wie reagieren die Freiwilligen im ersten Moment auf das Thema?

SL: Die FSJ’ler reagieren überwiegend sehr interessiert, zumindest im Vergleich zu den Schüler*innen. Dort ist das Projekt immer in den Schulalltag mit Lernstoff und Klassenarbeiten eingebunden, aber im FSJ findet das Seminar losgelöst von der Atmosphäre mit Leistungsdruck statt.

AM: Wir begegnen vor allem viel Dankbarkeit. Die wenigsten berichten uns, dass das Thema psychischer Erkrankungen schon mal in der Schule thematisiert wurde. Sie sind froh darüber, wenn das jetzt im Seminar endlich mal zur Sprache kommt und kommen darf.

SL: Die FSJ’ler beziehen viel aus dem Seminar auch auf ihre Arbeit und das ist eine sehr wertvolle Erfahrung. Schüler*innen denken bei psych. Stress oft an die Familie, Privates oder auch an Liebeskummer. Im sozialen Bereich gibt es aber auch psychisch belastete ältere Menschen oder Kinder und Jugendliche, mit denen man zusammenarbeitet. Da ist es gut, über das Thema Bescheid zu wissen, auch wenn man selbst nicht betroffen ist.

6 Welche schönen Momente gibt es in der Arbeit bei „verrückt, na und?“, welche anstrengenden Momente?

AM: Schwierig und anstrengend ist es, wenn man sehr leise oder sehr laute Gruppen hat. Ich persönlich finde ich die ganz leisen Gruppen noch schwieriger. Dahinter steckt meist das große Tabu, nicht darüber reden zu wollen und zu können. Damit zu arbeiten, ist herausfordernd. Die langen Seminare sind auch manchmal aufgrund der Dauer sehr anstrengend. Ein Teilnehmer sagte nach den sechs Stunden einmal: „Es war schön, aber jetzt hab ich einfach Gulasch im Kopf.“ Bei anderen Momenten im Seminar werden viele Emotionen miteinander geteilt, auch eigene Mobbingerfahrungen. Es entsteht aber ein Raum, sich darüber auszutauschen und gegenseitig zu supporten. Das ist zwar sehr schön, aber eben auch anstrengend, mit so vielen Gefühlen konfrontiert zu werden.

SL: Es ist für uns Erfahrungsexpert:innen immer schwierig, wenn man im Gespräch mit den Jugendlichen auch wieder an eigene Probleme und Traumata erinnert wird. Da fällt es uns immer mal wieder schwer, den eigenen roten Faden beizubehalten oder die eigene sachliche Distanz zu wahren. Zu den schönen Momenten zählen aber unter anderem das Erleben des Klassenverbandes und der Verbundenheit der Schüler:innen untereinander. In den meisten Klassen wird einander aufmerksam zugehört, man geht gemeinsam auf Gefühle ein und tröstet sich auch mal. Das zu sehen, ist immer sehr schön

AM: Ein Teilnehmer fand beim Thema „Stärken“ den Mut, uns etwas vorzutanzen. Es war schön, das mitzuerleben. Ich finde es toll, dass das Projekt auch den Raum lässt, so etwas zuzulassen, es kein extrem festgezogenes, striktes Programm gibt. Es wird in den Seminaren immer viel gelacht und das gibt mir auch das Gefühl, den Draht und die Verbundenheit zur Jugend zu behalten. Besonders am Ende, wenn es ans Feedback geht, habe ich ganz oft Gänsehaut von den tollen, bewegenden Zusammenfassungen.

7 Habt ihr eine Veränderung bei den Problemen der Jugendlichen im Laufe der Jahre mitbekommen?

AM: Wenn ich früher nach den Problemen gefragt habe, waren es oft Elternhaus, Liebeskummer usw. Heutzutage sind es oft auch größere Themen wie die Klimakrise oder die Coronapandemie. Themen gehen da manchmal weg vom Persönlichen und hin auch zu gesellschaftlichen Problemen. Was aber gleich blieb in all den Jahren: Die Jugendlichen öffnen sich, wenn man sie fragt.

SL: Die Bewältigungsstrategien sind auch einigermaßen gleichgeblieben: Selbstverletzung, Suchterkrankungen, Depressionen oder Angst. Aber die sozialen Medien sind in ihren Einflüssen stark gewachsen – positiv wie negativ.

AM: Ich bin dann immer etwas schockiert, wenn ich dann mitbekomme, dass junge Menschen auch gemeinsame WhatsApp Gruppen haben, in denen sie ihre Selbstverletzung miteinander teilen oder permanent füreinander erreichbar sein müssen. Aber durch soziale Medien sind die Jugendlichen auch viel besser informiert, kennen auch mehr psychische kranke Prominente oder Influencer. Auch Begriffe wie Trauma oder Trigger sind dadurch sehr prominent geworden, manchmal auch zu inflationär. Themen wie geschlechtliche Identitäten oder Transidentität sind in den letzten Jahren stark gewachsen. In einer Klasse gab es auch mal eine große Diskussion zu Transidentität und LGBTQ und da habe ich mir auch gedacht, das geht jetzt ja eher weg vom Thema. Da ist es manchmal die Herausforderung, da die Jugendlichen von ihrem interessierten Thema wieder zurückzubringen. Am Ende des Tages ist es auch immer ein Überraschungsei, was uns da in den Seminaren mit den Jugendlichen erwartet.

8 Gibt es viele Freiwillige, die sich mit ihren psychischen Problemen im Seminar gesehen füllen und öffnen?

AM: Also zumindest sind sie erstmal dankbar, dass das Thema auf dem Tisch ist. Es geht da nicht immer darum, jeden einzelnen individuell zu besprechen, sondern einfach offen zu klären: Das Thema ist da und man kann darüber reden ohne negative Reaktionen oder schiefe Blicke. Die Rückmeldung am Ende ist bisher immer positiv ausgefallen. Auch wenn am Ende nicht viel Feedback kommt, weiß ich, dass die Jugendlichen auch weiter darüber nachdenken werden.

SL: Von der Mehrheit wird das Thema angenommen und sie fühlen sich auch gesehen und gehört. Im Laufe des Tages stelle ich oft fest, dass ich die Jugendlichen dadurch auch besser kennenlerne und dann eben weiß: Wer hat welche Probleme, wer ist mit wem befreundet, wie geht es den Jugendlichen. Dann kommt es oft zu einem Domino-Effekt: Sobald eine Person anfängt, etwas von sich zu erzählen, dann kommen meist noch viele andere Geschichten nach. Dieses Stigma muss erst einmal gebrochen werden.

AM: Die Jugendlichen fühlen sich dann vor allem nicht mehr alleine mit ihren Geschichten. Wenn sich ein oder zwei Jugendliche äußern, dann bekommen die Anderen mit, dass es noch mehr Menschen mit psychischen Problemen und Krisen gibt. Das führt bei den Jugendlichen oft zu einer Entlastung.

9 Welches Feedback gab es bisher für euch, von Teilnehmenden wie auch Teamer:innen oder Pädagog:innen?

SL: Da fällt mir das Feedback von einer Gruppe internationaler Freiwilligendienstleistender ein. Eine/r aus der Gruppe, der nicht aus Deutschland kam, hatte mir am Ende die Frage gestellt, wie er/sie mit der Familie darüber reden kann. Er fühle sich nicht sicher, mit seinen Eltern darüber zu reden. Gleichzeitig gab es das Gefühl, die eigenen Eltern zu enttäuschen, wenn man nicht darüber spricht. Gerade der letzte Aspekt war ein sehr ungewöhnliches Feedback für mich. Da wurde ich mit anderen Kulturen konfrontiert, bei denen Eltern eine ganz andere Rolle einnehmen als es bei uns der Fall ist. Danach habe ich mich belesen und war froh, meinen eigenen Horizont auf andere Kulturen erweitern zu können.

AM: Wir erleben das auch in den Schulen mit den ukrainischen Schüler*innen, bei denen das Thema Psyche in der Familie keinen oder kaum Platz findet.

SL: In einer Schule hatten wir ein Mädchen mit einer Angsterkrankung, bei der die Lehrerin uns schon vorinformiert hat, dass sie allgemein nur selten vor der Gruppe spricht. Am Ende des Seminartages zur Feedbackrunde äußerte sie noch einmal ihre Erfahrung vor der gesamten Gruppe. Wir waren über diese Meldung positiv überrascht und haben uns gefreut, dass sie sich das getraut hat.

AM: Eine andere Schülerin fing in den letzten Minuten des Seminares noch einmal an, von ihrer Schizophrenie zu sprechen. Das Thema war vorher gar nicht zur Sprache gekommen, aber am Ende gab es den Raum dafür. Das erleben wir sehr häufig: In den letzten Minuten kommt dann doch noch ein*e Teilnehmer*in, die kurz eigene Probleme und Erfahrungen mit uns teilt, um es ausgesprochen zu haben.

10 Könnt ihr jeweils einen Satz dazu sagen, den ihr Jugendlichen im Freiwilligendienst gerne mitgeben möchtet?

AM: Ich würde jungen Menschen gerne mitgeben, dass sie sich, ihre Themen und Gedanken ernst nehmen sollen. Was sich für dich gut anfühlt, kannst du behalten. Was sich für dich nicht gut anfühlt, darüber solltest du sprechen und dich anderen anvertrauen.

SL: Sprich ganz viel mit den Menschen in deinem Umfeld über deine Themen. Nimm dich selbst ernst und wichtig und kommuniziere auch nach außen, dass du wichtig bist.

AM: Der gesellschaftliche Druck, irgendwie zu leisten und irgendwie sein zu müssen, ist schon sehr stark.

11 Möchtet ihr uns noch etwas zur gemeinsamen Arbeit mitteilen?

AM: Ich bin froh und dankbar, das Projekt durchführen und begleiten zu können. Es ist schön, auch durch das DRK so viele junge Menschen erreichen und begleiten zu können.

SL: Es lohnt sich, so vielen FSJ’lern aus so vielen verschiedenen zu begegnen. Es schafft eine gute Grundlage, so viele unterschiedliche, heterogene Jugendliche im Seminar erreichen zu können.

AM: Dadurch wächst auch das Verständnis füreinander, egal wie unterschiedlich man ist.

Das Präventionsprogramm stammt von dem Leipziger Verein Irrsinnig Menschlich e. V. Seit 2008 wird es über das Trägerwerk Soziale Dienste Sachsen-Anhalt in Halle/ Saalekreis in Schulklassen ab der 8. Klasse und Bildungsinstitutionen wie bspw. den Bildungsseminaren der Freiwilligendienste angeboten. Mehr Informationen über die Arbeit des Trägerwerks Soziale Dienste in Sachsen-Anhalt findest du auf der Website der Seelensteine: https://seelensteine.org/das-schulprojekt-verrueckt-na-und/. Mehr Informationen zu „verrückt, na und?“ gibt es auch auf der Website von Irrsinnig menschlich e. V.: https://www.irrsinnig-menschlich.de/psychisch-fit-schule/.